Langeweile?
Als „Carnet“ oder per Hänger?
Vorfreude
Links, linker – und wie weiter?
Aufgabe zum 7.5.20
Maskenkauf

Langeweile?

„Guten Tag, ich bin von der Firma A.K.T.. Mein Name ist Aktio, Andreas Aktio“, wiederholte er mit sonorer Stimme. Ein Knacken in der Leitung, dann Grabesstille. Erneuter Versuch –ohne Erfolg.

Die Aufgabe war ihm zugewiesen worden. Neue Situation erfordere ungewöhnliche Strategien, es gehe um das große Ganze – so das Credo seiner Firma. „Bringen Sie die Leute zurück, raus aus der Lethargie, direkt in die Aktion.“ Nomen est omen!
Seine Zielgruppe – handverlesen ausgewählte Neu-Ruheständlerinnen. Diese Bezeichnung gab er ihnen, richtete er doch sein Augenmerk darauf, sie heraus aus der Ödnis der Untätigkeit zu führen und wieder zügig einzugliedern in den Prozess „Sehen – aufbrechen – stöbern – erwerben“.
Er beobachtete sie täglich: wie sie ihren Laptop hochfuhren, im Internet surften, Mails schrieben, zögerlich Bestellungen tätigten. Gut, dass sie das Kameraauge nicht abdecken, dachte er ein ums andere Mal. Beharrlich konnte er ihnen auf Schritt und Tritt folgen, erkannte ihre Handlungsmuster, wusste ihre nächsten Aktionen treffsicher zu benennen.

Seine Aufmerksamkeit widmete er ihr schon seit Beginn des kalten Lockdown.
Wie alt mochte sie sein? Zwanzig Jahre älter als er, Mitte sechzig, das dürfte wohl hinkommen. Wie geschmackvoll und farbenfroh sie sich kleidet, phantasievoll aufeinander abgestimmte Accessoires, nicht so einfallslos wie meine Mutter zuweilen, dachte er bei sich.

Zunehmend, so schien es ihm, langweilte sie sich. Die Finger hasteten mal ziellos über die Tastatur, verhaspelten sich nicht selten, Korrekturen nahm sie unwirsch vor, die Augen angespannt auf den Bildschirm gerichtet, dann wieder verharrte sie regungslos. Die Zeit, so kam es ihm vor, verrann unaufhaltsam zwischen ihren Fingern.
Keine Mimik offenbarte ihm ihr Innenleben.
Nein, hier war sein Eingreifen gefragt. Er sortierte seine Gedanken, spielte im Geist mit den geeigneten Worten. Die Aufgabe war …
Wahlwiederholung gedrückt, kein Besetztzeichen, den gleichförmigen Ton des Freizeichen in den Ohren, warten. Sie meldete sich mit einem „Ja, bitte“, ließ ihn nur wenige seiner zurechtgelegten Sätze abspulen, ein kurzes „Kein Interesse“ – tote Leitung. Bloß nicht aufgeben!

Heute Morgen – sie wirkt so aufgeräumt. Ein Rauschen zeigt ihm an, der PC läuft, früher als gewöhnlich. Sie scheint wohl die Überschriften der aktuellen Nachrichten zu überfliegen, deutet er das Hoch- und Runter-Scrollen mit der Maus. Was ist anders, fragt er sich insgeheim. Die Ruhe in den Bewegungen der Augen, das Lächeln auf ihren Lippen, ein Strahlen hat sich auf ihrem Gesicht breitgemacht. Beim Aufstehen, wie geschmeidig ihr Habitus ist, nichts wirkt gekünstelt, mit welcher Anmut sie sich aus dem Zimmer entfernt.
Energisch holt er sich in die Wirklichkeit zurück. Die Erwartung des Chefs, die Firmenphilosophie, er hat eine Aufgabe, sonst …
Nach wenigen Sekunden meldet sie sich, ohne Namen -wie soll er sie nur ansprechen, schießt es ihm durch den Kopf- nur ein knappes „Hallo, wer ist da bitte?“ fordert zum Antworten auf.
„Äh, ja“, entfährt es ihm ungewollt, „ich möchte nicht viel Ihrer kostbaren Zeit in Anspruch nehmen. Ich heiße Aktio, Andreas Aktio, und werde Ihnen als Aktionist zur Seite stehen. Wir glauben, ähm, ich glaube, Sie benötigen Hilfe. Ihr Leben ist aus dem Takt gekommen, Ihr gewohnter Tagesablauf läuft aus dem Ruder, Sie sind nicht mehr Sie selbst …“

Weiter kommt er nicht. Ein Vibrieren in ihrer Stimme trifft ihn wie ein Keulenschlag gegen den Kopf. Er spürt, dass sich das Blatt wendet, ahnt, dass er vom Jäger zum Gejagten wird. In eindringlichen, wohlgewählten, von innerer Stimmigkeit durchzogenen Worten erklärt sie ihm, wie es ihr gelungen ist, die Langeweile als lange Weile zu erleben, allen gebetenen und ungebetenen Gefühlen Raum zu geben und im Verharren eine unbekannte Freiheit zu erleben.

Zulassen –– Tal der Tränen – aufwachen – leben. Wortfetzen nur, und doch hallen sie in seinen Ohren nach, lassen ihn auf Wanderschaft gehen, weg vom Streben –wonach eigentlich? – immer weiter weg. Ein Waldweg tut sich vor ihm auf, Aktio folgt ihm leichtfüßig, den „Nist“ auf seinen Schultern spürt er kaum – er läuft und läuft …

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Als „Carnet“ oder per Hänger?

Das Telefon klingelte, mehrfach, unerbittlich. Ich schaute auf den Wecker. 22.30 Uhr. Gerade erst, so schien es mir, war ich eingeschlafen, hatte mich vermutlich in der ersten REM-Phase befunden, zögerte, sprang dann doch ungelenk aus dem Bett.

„Ja, hal-lo?“ Den Namen der Anruferin vernahm ich, ohne ihn einem Gesicht zuordnen zu können. „Wir haben Sie ausgewählt. Möchten Sie zum 1. August an das Nationalitätengymnasium in Pilisvörösvár gehen? Sie müssten jetzt sich entscheiden, ansonsten …“
Schlaftrunken versuchte ich in Gedanken eine Ordnung in das Gehörte zu bringen. Richtig, heute Vormittag, es war der 1. Juni, der Geburtstag meines Vaters, war ich zum Auswahlgespräch in die Brettschneiderstraße, dem Sitz der Schulbehörde, geladen worden. Meine Vita schien das Interesse der Kommission geweckt zu haben, interessierte Nachfragen ließen mich in diese Richtung denken, locker konnte ich mich präsentieren. Ob ich genommen oder an meiner Schule bleiben würde– das sollte das Schicksal entscheiden.

Um diese Zeit mich anzurufen, das fand ich schon schräg, aber ich sollte mich jetzt sofort positionieren.
„Ja, ich werde nach Ungarn gehen“, vernahm ich meine Stimme aus dem Off.

1. Juni- 1. August, zwei Monate, der Umzug musste arrangiert werden, Flug nach Budapest und ein erster Besuch Anfang Juli an der neuen Schule, Treffen mit dem ungarischen Chef, Hausbesichtigung – und vor allem: Einen Stall für „Duchesse“ musste ich finden, ihren Transport organisieren.

Mein „Ex“ hatte mir eine Adresse in Budapest, nahe dem Keleti-Bahnhof, genannt, die anfangs ziemlich befremdlich anmutete. Ein Stall gegenüber einem Bahnhof -hm?
Ich staunte nicht schlecht, als ich das erste Mal auf das Stallareal trat: Hinter den Mauern eröffnete sich mir der Blick auf gepflegte Rasenplätze, eine Reithalle, einen Stalltrakt, der Unterkunft für viele Pferde bot, und diverse Spring- und Dressurplätze. Gyula, der Reitlehrer, den ich schon vor Jahren auf einem Turnier in Berlin kennengelernt hatte, umarmte mich warmherzig und in typisch ungarischer Manier, Küsschen links neben die Schulter, Küsschen rechts und noch einmal links, begrüßte mich in nahezu akzentfreiem Deutsch. Jegliche Zweifel lösten sich innerhalb von Augenblicken in Luft auf. Ich fühlte mich willkommen, besser gesagt, „Duchesse“ würde sich hier wohlfühlen können.

Aber wie sollte sie in ihr neues Domizil gelangen? Telefonate mit dem Veterinäramt und dem Zoll hatten zwei Möglichkeiten aufgezeigt: Sie könnte mit Carnet-Frachtpapieren einreisen, keine Ahnung, was das im Detail bedeuten würde, oder amtstierärztliche Bescheinigungen müsste ich besorgen. Beinahe hätte ich der ersten Version zugestimmt, erschien sie mir doch angesichts der Kürze der Zeit einfacher realisierbar. Eine innere Stimme riet mir jedoch, „wähle den anderen Weg“.
Gesagt – getan. Na ja, so einfach gestaltete es sich natürlich nicht, Hilfe von transort- und turniererfahrenem Stallpersonal war unabdingbar. Silke und Torsten beruhigten mich immer auf´s Neue, wenn Panikstimmung sich Raum zu schaffen suchte. „Wir transportieren sie mit unserem Hänger, nehmen die uns wohlvertraute Route über Tschechien, übernachten dort, dann weiter über die Slowakei bis nach Budapest. Dort treffen wir dann aufeinander.“ Überzeugend und einfach!

Am Tag der Abreise ging alles ganz schnell, raus aus der Box, rein in den Hänger, Klappe hoch, kein langes Verabschieden – und los.

Ich hatte geplant, am übernächsten Tag mit Sack und Pack zu folgen. Immer größere Unruhe erfasste mich. Meine Zelte wollte ich nun endlich abbrechen, in unbekannte Gefilde aufbrechen und herausfordernde Aufgaben übernehmen. Dennoch – Unsicherheit, „Wie würde es dort an der Schule sein, wie, wie …?“ gesellten sich unüberhörbar hinzu.

Ungefähr gegen 15 Uhr am Nachmittag des 24. Juli läutete das Telefon. „Wir stehen an der Grenze zu Tschechien, der Tierarzt lässt uns nicht einreisen, die Papiere sind nicht in Ordnung, irgendetwas fehlt!“
Nach gefühlt unzähligen Versuchen hatte ich endlich einen tschechischen Botschaftsangestellten an der Strippe. Er bestätigte die Vollständigkeit der erforderlichen Grenzpapiere, erteilte telefonisch dem Amtstierarzt die Anweisung, den Tross passieren zu lassen.
Kurze Zeit später – erneutes Läuten. Silkes Stöhnen konnte ich vernehmen: „Er lässt uns nicht einreisen, meint, Berlin könne ihn mal … Wir fahren zurück und reisen über Österreich ein.“
Mein armes Pferd, dachte ich, kannte ich doch meine Stute nur zu gut. Es wird schon klappen, Silke und Torsten sind erfahren genug, gewöhnt an den Umgang mit meinem Sensibelchen, versuchte ich mich zu beruhigen.

Wie verabredet trafen wir uns zwei Tage später im Budapester Stall. Dort, Gott sei Dank, erst dort, erfuhr ich von der nächtlichen Reifenpanne nahe Dresden, dem Ausladen auf freier Strecke bei strömendem Regen, der spontanen Hilfsbereitschaft des Dorfpastors, meinem Pferd Unterschlupf in seinem Stall zu gewähren, dem erneuten Verladen, dem Umweg von insgesamt über 800 Kilometern.
Dreier Tage bedurfte es, bevor sich „Duchesse“ von dem für sie ungewohnten Hänger-transport erholt, sich im Stall mit ihrer Nachbarin angefreundet hatte, wieder mit Inbrunst zu fressen begann –eigentlich ihre Lieblingsbeschäftigung, „wie der Herr, so´s Gescherr!“- und mich mit ihrem durchdringenden freudigen Wiehern in ihrer Box begrüßte.

Für mehr als sechs Jahre wurde dieser Stall zu ihrer Heimat, bis ich sie 2000 an ein junges Mädchen, die ihr große Zuneigung entgegenbrachte, verkaufte und selbst die Reitstiefel an den Nagel hängte.
Ach ja – hätte ich sie entgegen meinem Bauchgefühl als „Carnet“ nach Ungarn einreisen lassen, dann wäre … Aber das ist eine andere Geschichte.


Vorfreude

Das Weihnachtsfest rückt näher, ich kann es sehen, spüren, riechen.
Festlich dekoriert sind die Schaufenster der Geschäfte, leuchten schon von Weitem in Rot und Grün, Gold und Silber, wollen Alt und Jung verzaubern und zum Kauf verführen. Auch die Straßen erstrahlen beim Einsetzen der Dunkelheit in hellem Lichterglanz. Ganz besonders hat es mir der Kurfürstendamm angetan: Von Halensee bis zum Wittenbergplatz grüßen wie in jedem Jahr Weihnachtsmann, Rudi und Co in Lebensgröße, wünschen uns allen ein „Frohes Fest“, werden gesäumt von kahlen Bäumen, auf denen Schneekristalle zu hüpfen scheinen.
Ich sitze im 19er Bus, auf dem Oberdeck, ganz vorn in der ersten Reihe, mit freiem Blick auf ein Lichtermeer. Es ist für mich zu einem Ritual geworden, den Kudamm in der Adventszeit einmal hoch und runter zu fahren, mich vom „Schneetreiben“ einfangen zu lassen –ich merke, wie meine Gedanken mehr und mehr abdriften, das Heute und Gestern vermischen sich miteinander…

Mit seinen kleinen ungelenken Fingern klopfte er unverdrossen an die geschlossene Tür, die ins Weihnachtszimmer führte, und wiederholte schon seit gefühlten Stunden die Frage „War der Weihnachtsmann schon da?“. Es nervte mich, war ich doch selbst so aufgeregt, und meine Antwort lautete erneut „Nein, das Christkind war noch nicht bei uns.“
Am Vorabend hatten die Eltern uns gesagt, dass wir –wie in jedem Jahr- erst am Weihnachtsabend wieder ins Zimmer eintreten und auf gar keinen Fall den Weihnachtsmann und seine Helferlein bei der anstrengenden Arbeit stören dürfen.
Das Einschlafen wollte mir gar nicht gelingen. Mein vierjähriger Bruder, der zu mir ins Bett gekrochen war und sich dicht an mich gekuschelt hatte, schloss sogleich die Augen, als ich anfing, die traurige Geschichte „Das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern“ vorzulesen. Ich liebte dieses Märchen ganz besonders, fühlte die Verlassenheit und Einsamkeit des armen Kindes mit Haut und Haaren, ein Schaudern durchströmte meinen Körper bei nahezu jeder Zeile. Mein Bruder schien hingegen den gleichmäßigen Rhythmus meiner Stimme zu lieben, der ihn langsam in den Schlaf schaukelte und ins Reich der Träume führte.
Am nächsten Morgen – ein Blick aus dem Fenster verriet uns: Es schneite in dicken Flocken, frischer Schnee hatte der gleichmäßig gewachsenen Fichte und dem in die Jahre gekommenen Nussbaum schon eine festliche Haube aufgesetzt, hatte sich breit gemacht auf unserer Wiese, auf der wir im Sommer mit den Nachbarskindern ungestüm herumtollen konnten. Schnell angezogen, nur Katzenwäsche, Pudelmütze auf, Schal um den Hals geschlungen, meinem Bruder ging es nicht fix genug, so nörgelte er herum, ich half ihm, vergaß beinahe die von meiner Mutter gestrickten flauschigen Handschuhe tief in die Anoraktasche zu stopfen.
Der Vormittag verging im Fluge, meine Freunde waren einer nach dem anderen auf dem Hof eingetroffen, Schneeballschlachten, begleitet von Lachen und dem Knirschen unter den Stiefeln beim Wegrennen, wurden nur unterbrochen vom Bauen eines Schneemanns. Wir älteren rollten den weichen Schnee zu unterschiedlich großen Kugeln, die wir mit vereinten Kräften aufeinandertürmten. Unsere Hauswartsfrau, „die alte Lange“, wie wir sie wegen ihres ständigen Meckerns mit uns Kindern nannten, unterstützte uns heute zu unserer Überraschung mit einem ausgefranzten Kehrbesen, einem schwarzen Schlapphut und einer knackigen Mohrrübe, die nach mehreren Versuchen von meinem Bruder an die richtige Stelle im Gesicht gedrückt wurde. Fertig!
„Mittagessen“, erschallte es für uns aus dem Badfenster, ein Tschüss-bis-morgen ließ meinen Bruder und mich erwartungsfroh im Hausflur entschwinden und die Treppen zur Wohnung hinaufrennen.
Aber – es waren immer noch Ewigkeiten, bis wir ins geschmückte Weihnachtszimmer würden stürmen können und unsere Geschenke, eingewickelt in rotes glitzerndes Papier, mit goldenen und silbernen Schleifen und einem grünen Tannenzweig aus Schokolade verziert, zuerst nur anschauen und später nach dem Essen, den an diesem Abend besonders lecker schmeckenden Würstchen mit Kartoffelsalat und dem Vanillepudding mit Schokoladensoße endlich-endlich auspacken durften.
Wie würde der Tannenbaum in diesem Jahr geschmückt sein? Ich liebte vor allem die rot-glänzenden großen und kleinen Kugeln, einige mit Schneeglitzer bestäubt, den Geruch des Bienenwachses, wenn die Kerzen flackerten und das Zimmer in hellem Licht erstrahlen ließen, die einzeln aufgehängten Silberlamettafäden über jedem Zweig. Und in der Mitte des Tisches würde die dreistöckige Pyramide stehen, sich im Kreise drehen, die Engel, Weisen und Hirten das Christkind bestaunen und uns so die Weihnachtsgeschichte erzählen.

„U-Bahnhof Wittenbergplatz“ – die Ankündigung der nächsten Haltestelle holt mich abrupt zurück in die Wirklichkeit. Beim Aussteigen denke ich, wie anheimelnd und zugleich nah Kindheitserinnerungen doch sein können.


Links, linker – und wie weiter?

Klein, handlich, rechteckig, rot: Ich kann in jede Handtasche gesteckt werden, die erste Seite schmückt das Konterfei des Gurus, der zum Sinnbild einer ganzen Generation wurde, die sich nach Veränderung sehnt, sich einen Aufbruch erträumt, weg von den verstaubten Traditionen der Elterngeneration, hin – wohin, das ist nur schemenhaft skizziert. Auf jeden Fall scheint ein anderes, vermeintlich gerechteres Gesellschaftssystem erstrebenswert, ein Ideal weit weg im Osten etabliert.

Die Worte, die faszinierend auf junge Menschen, zumeist Studenten, wirken, werden rezitiert, diskutiert und immer von Neuem gelesen, mantramäßig wiedergegeben. Abwertend geben meine Kritiker mir den Beinamen „Bibel“, genauer „Mao-Bibel“.

Wie ich zu ihr gelangt bin, vermag ich nicht auf Anhieb zu sagen. Ich erinnere mich, dass ich eines Tages in ihrem Besitz war, gehütet von dann an wie ein Schatz, im passenden Moment aus der Mappe geholt und zur Unterstreichung der Argumente hinzugezogen.

Gerade hat sie ihr Abitur bestanden, der Weg an die PH folgt. Wird sie weiter auf Demonstrationen gehen, protestieren gegen die imperialistische Politik der USA und gegen -wer weiß noch was alles? Oder werden ihre Mitstudenten sie in einen pragmatischeren Alltag begleiten, der zudem wenig Zeit für Eskapaden lässt? Sie arbeitet jetzt nebenbei als Stundenlehrerin an einer Privatschule, muss Geld für ihren Lebensunterhalt und die erste eigene Wohnung verdienen, am Vormittag und späten Nachmittag Seminaren beiwohnen und ist auch noch tief verwurzelt in leistungssportlichen Aktivitäten, die regelmäßiges Training erfordern.

Betätigt hat sie sich politisch seit der 11. oder 12. Klasse, Ende der sechziger Jahre, ermuntert durch den Deutsch- und Politische Weltkunde-Lehrer –er selbst bezeichnete sich als „links-liberal“ und ragte als ein Leuchtturm in der eher konservativen Gymnasiallehrerschaft heraus-, der es verstand, kritische Äußerungen zu aktuellen gesellschaftlichen Fragestellungen aus seinen Schülern herauszukitzeln.

Sie geht zu Schulungskursen, angeregt durch zwei Mitschülerinnen, die in einer trotzkistischen bzw. maoistischen Organisation mitarbeiteten, liest gemeinsam mit anderen –zumeist- Studenten Auszüge aus dem „Kapital“, lernt Texte und Reden Maos kennen, wird Mitglied der „Liga gegen den Imperialismus“, läuft regelmäßig in (West-)Berlin auf den Demonstrationen gegen das Establishment mit. Sie ist überzeugt, dass sich die Gesellschaft in der BRD verändern muss, Gespräche mit ihrem Vater über Politik bestärken sie darin. Als Vorbild dient nicht die angrenzende DDR, nein, nicht diese Art von Sozialismus, den sie hautnah bei ihren Besuchen bei der Großmutter und ihrer Tante erlebt, sondern vielmehr das kommunistische China. Um überzeugend auftreten zu können, bin ich ihr eine zuverlässige Stütze.

An der PH belegt sie zunächst das Fach Mathematik, wechselt nach zwei Semestern zu Geschichte. Ein Ereignis während einer Mathematik-Vorlesung hat sie zu diesem Schritt bewogen: Ihre –zumeist- männlichen Kommilitonen skandierten lautstark „Wir wollen Mathe machen“, als Mitglieder des ASTA (Allgemeiner Studentenausschuss) in die Veranstaltung kamen und über die –ihrer Meinung nach- veralteten Studieninhalte in Pädagogik, Didaktik etc. und die überholten Lehrmethoden aufklären und zu einem Boykott aufrufen und zur Vollversammlung einladen wollten. Ich höre sie noch vor sich hin murmeln
„Was ist denn das für ein reaktionärer Haufen? Ich glaube, hier bin ich falsch!“. Wutentbrannt verlässt sie daraufhin den Hörsaal.
Nach bestandenem 1. Examen soll sie für die Zeit des Referendariats verbeamtet werden, muss sich vor einer Kommission, deren Befragung eher einem Verhör ähnelte, rechtfertigen, warum sie Mitglied der „Liga …“ sei und ob sie überhaupt auf dem Boden der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehe.

Zu diesem Zeitpunkt –wir befinden uns im Sommer 1978- liege ich schon gefühlt Jahre auf ihrem Schreibtisch in einer Ablage, ganz unten, staube vor mich hin, werde später im Bücherregal abgestellt. Meine Zeit ist vorbei. Sie hatte sich schon längst aus der „Szene“ zurückgezogen, nachdem sie im realen Leben –auch durch ihre Arbeit an der Privatschule während der Studienzeit- angekommen war und erkannt hatte, dass Utopien nicht helfen und kein Werkzeug bereithalten, um konkrete Lösungen für gesellschaftliche Fragestellungen wie z.B. Absenkung der Volljährigkeit von 21 auf 18 Jahre, Frauenrechte, Abschaffung des § 218 etc. zu finden. Der „Liga“ kehrte sie schon Mitte der 70er Jahre den Rücken, ihr Name war aber noch weiterhin in der Mitgliederkartei geführt und bei einer polizeilichen Razzia im Büro der Vereinigung im Zuge von RAF-Ermittlungen gefunden worden.

Die Überprüfung besteht sie, wird zum Referendariat zugelassen, tritt in den Schuldienst ein.
1995, als sie ihre Wohnung in Schöneberg auflöst –sie hat sich entschieden, weitere sechs Jahre in Ungarn zu verleben-, entsorgt sie mich dann endgültig im Müll. Die Erinnerung an mich verblasst mehr und mehr.

 

Aufgabe zum 7.5.20

Mich auf einen digitalen Spaziergang ins Museum zu begeben –auf diese Idee war ich bisher nicht gekommen.
Warum eigentlich nicht? Würde mich ein Gemälde, zweckdienlich auf den Bildschirm meines PCs heruntergeladen, ebenso in seinen Bann ziehen, mich gedanklich in eine andere Welt entführen können, Assoziationen zu meinem eigenen Erleben ermöglichen, wie es mir in einer Ausstellung oder im Museum schon so häufig widerfahren ist?

Neugierig zappte ich durch die einzelnen „Alben“, zuweilen gelangweilt und ohne innere Resonanz. „Ich und die Welt“ ließ mich innehalten. Oder würde vielleicht „Die Welt und ich“ meine Empfindungen in der momentanen Situation zutreffender beschreiben, dachte ich beiläufig …

Fritz Uhde: „Am Fenster“ (1890/91)

Früh am Morgen, gleich nach Sonnenaufgang, hatte sie sich an ihr Tagwerk gemacht, stand doch heute ein besonderer Tag für die Bürger der Stadt an. Aus der Umgebung würden sie anreisen, wie jedes Jahr am ersten Samstag im Mai, die Händler, Bauersleute, Handwerker und fahrendes Volk, um den Schaulustigen Neues und Altes, Nützliches und Tand feilzubieten, Augen und Ohren von Jung und Alt zu erfreuen, den Gaumen mit Leckereien angenehm zu kitzeln. Vielleicht, so dachte sie, könnte ich mich später freimachen und zu den Leuten gesellen, einfach nur zuschauen…
Sorgsam hatte sie schon am Vorabend die anstehenden Näharbeiten vorbereitet: Am Boden neben dem Herd stapelten sich Hosen, Hemden und allerlei Krimskrams, die Löcher sollten geflickt, zu Kurzes verlängert, zu Enges erweitert werden.

Ihre Kundschaft, seit langer Zeit ihr treu zugetan, wollte sie nicht warten lassen und hatte auf ihr „bis morgen, bitte“ mit einem tiefen Seufzer und zustimmendem Nicken geantwortet.

Ja, sie würde alle Aufgaben zuverlässig beenden, ging es ihr durch den Kopf, während die Maschine in gleichmäßigem Rhythmus surrte und die Nähte schnurgerade setzte. Für die alte, die ihr über Jahre ein wohlgesonnener Helfer gewesen war, hatte sie einen Käufer finden können, welch ein Glück! Dennoch- die Schulden für das „Wunderding“, wie sie den Neuerwerb zuweilen liebevoll und nicht ohne Stolz nannte, lasteten spürbar auf ihren Schultern.

Durchdringende Händlerrufe, fröhliches Kinderlachen, Stimmengewirr erregten zunehmend ihre Aufmerksamkeit. Für einen kurzen Moment nur wollte sie die Arbeit aus der Hand legen und trat geschwind ans Fenster. Was gab es nicht alles zu sehen! Das Fest war schon in vollem Gange, bekannte Gesichter erkannte sie in der Ferne, Nachbarinnen hatten sich zu einem Plausch zusammengefunden, die Stadtherren in Robe samt Ehefrauen flanierten über den Marktplatz, grüßten nach links und rechts. „Sehen und gesehen werden!“ Sehen und gesehen werden“, wiederholte sie deutlich vernehmbar, „das gilt auch für mich!“

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Maskenkauf

Beständiges Summen und Surren von zwei Nähmaschinen, unsichtbar hinter einem Paravent
verborgen, habe ich kürzlich in „meiner“ kleinen Änderungsschneiderei um die Ecke
wahrnehmen können.

Wir, die zahlreichen Kaufinteressierten, standen draußen auf der Straße, in gebührendem
Abstand von 1.50 m zueinander und hintereinander in Reih und Glied. Masken aus
Baumwolle, in vielen Farben und Mustern oder uni, große für den Herrn, schmalere für die
Dame waren gut sichtbar auf einer Wäscheleine angeklammert. Die Qual der Wahl ergriff
mich: Passend zum Outfit oder irgendeine, ging es mir durch den Kopf. Blödsinn!
Inzwischen haben auch Designer diese Marktlücke erkannt und bieten modische Masken zu
jedem Anlass an. Doch kein Blödsinn…?

3 Gedanken zu “Schreibwerkstatt_Barbara”

  • Liebe Barbara, ich freue mich sehr, dass deine Erzählung so leichtfüßig und flott daher kommt. Sehr schön. Meine Oma ist 1884 geboren; so energievoll und kraftvoll kann ich mir sie gut vorstellen. Danke.

  • zu: Links, linker …
    Liebe Barbara,
    das ist ein großes Stück Zeitgeschichte. Sehr mutig von Dir und bestimmt nicht leicht. Da ich im Osten groß geworden bin, fasziniert es mich über diese Zeit zu lesen. Zur Zeit beschäftige ich mich mit dem 3. Band von Ulla Hahn „Spiel der Zeit“, da geht es um die gleiche Problematik. Ich würde gern mehr von Dir lesen!
    LG Christa

  • Liebe Barbara,
    zu Vorfreude: Dieses Ritual in der Adventszeit finde ich sehr schön.
    Wie Du dann in die Vergangenheit, in die Kindheit gleitest ist sehr emotional. Ich sehe Deinen kleinen Bruder vor mir, von dem Du manchmal genervt scheinst, aber ihn als große Schwester sehr liebevoll umsorgst.
    Das Spielen im Schnee und vor allem das Weihnachtszimmer…
    Ich habe das Gefühl als Kind vor dem strahlenden Baum zu stehen…
    Du schreibst toll!

    zu „Als Carnet oder…“: Ich finde es sehr spannend. Erst einmal die Tatsache mit einem Reitpferd nach Ungarn umzusiedeln und zum anderen ist da dieser trockene Humor, der die ganze Geschichte würzt. Ach ja, die „Carnet-Variante“ würde ich auch gern kennenlernen.

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