Im Reitstall
Ich erinnere mich … an Norbert
Ritual oder Gewohnheit
Vollmondmeditation
Schreiben
ABC
Post aus Kanada
Zurück in die Gegenwart
Neu ausprobieren (16.04.)
Gedicht (2.04.)

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Im Reitstall

Ich schaue prüfend auf die Straße. Rechts. Links. weiter...

Drei Schritte bis zum Auto. Wieder mal einen Parkplatz direkt vor der Tür.
Da steht ER oder ist es doch eine SIE. Hager. Stocksteif. In diesem hautengen schrillgrünen Kosmonautenanzug bis über die Hände und Füße, mit dem kurzen lilabraunen stoppeligen Haar, das aus dem Helm quillt. PLOPP! PLOPP! PLOPP! PLOPP! Bläschen für Bläschen platzen, die an den Haarspitzen immer wieder nachwachsen. Ein durchsichtiges nach Gülle riechendes Gas entweicht jedes Mal.
Angelehnt und die Beine lässig überkreuz, die Arme vor der Brust verschränkt, da gegenüber in der Pforte, die zum Hain führt. Da steht ES, glotzt mich ungeniert und direkt an. Sogar etwas verschmitzt.
Kann ES ja, so viel ES will.
Ruckartig löst ES sich urplötzlich von der Pforte und neigt sich wie von einem Magneten angezogen in meine Richtung, als wenn ES sich bereit machen würde zum Sprint. Nur noch ein Schritt…

Da. Der alte Mann kommt, so schnell wie er es kann, schwerfällig angehinkt. Die schleppenden Geräusche, die sein nach sich ziehendes Bein macht, lenken meine Aufmerksamkeit zu ihm. Ich öffne ihm rasch meine Beifahrertür zum Einsteigen und stütze ihn beim hinein gleiten auf den Sitz. Schon flitze ich um das Auto herum und setze mich neben ihn. Der üble Geruch hat uns erreicht.
Ich schaue nervös in den Rückspiegel. Dieses Grün würde nicht zu übersehen sein. Ich bin unsicher, wo ES geblieben ist.
Wir fahren zu den Reitställen. Die Reitställe liegen etwas abseits von der Stadtmitte.
Ich erinnere mich an den kleinen Laden. Nur ein einziger kleiner Laden. Mit Werkzeug für die vielen Handwerke der alten Zeit. Hobel, Schneiderscheren, Töpferscheiben, große Siebe für den Siebdruck, alte Leisten für das Schustern, Lederlappen, Lötfett, kleine Spaten für das Blumenbeet.

Der Mann neben mir mit dem Hinkebein nutzt die Haltegelegenheit, windet sich aus seiner Sitzposition, steigt aus und verschwindet allmählich zwischen den Reithöfen.
Da ist ES wieder. Ein winziger grüner Blitz im Rückspiegel. Der grüne Verfolger ist mir auf den Fersen. Das Güllegas verrät ihn.
Nachdem der alte Mann fort ist, kurve ich hastig auf dem Gelände umher, unentschlossen, was ich tun werde. Vielleicht kommt der alte Mann gleich wieder, um mit mir zur Stadt zurück zu fahren.

Am anderen Ende der Reitstallanlage bei den Koppeln bleibe ich stehen. Hinter dem Schuppen, etwas versteckt, stelle ich mein Auto ab und steige aber noch nicht aus. Warte einen Moment. Etwas abwesend, beobachte ich die spielenden Kinder, wie geschickt sie die Reifen um ihre zarten schmalen Hüften kreisen lassen. Die anderen hopsen in den Quadraten voran, die mit grüner dampfender Kreide auf dem Fußweg gemalt wurden. Stört es die Kinder nicht? Oder sehe ICH das nur?

Jetzt steige ich aus. Vorbei an den Kindern. Ich schüttle mich ungläubig und reibe mir meine Augen. Nichts grünes mehr da. Ich gehe hinüber in den alten Reitstall. Ich folge dem Schatten, wie von einem langgezogenen Bleistift, der um die Ecke verschwunden ist.

Auf einmal bin ich wie in einer anderen Welt. Es riecht nach Stroh und Pferdedunst. Nach frischem Heu und das Malmen der Pferdekiefer, wenn sie die Köpfe aus dem Fresssack heben, kann ich deutlich hören. Sie treten etwas auf der Stelle. Ihre Hufe stampfen leicht auf. Wollen aber nicht zur Seite treten für das grüne Etwas, das eingezwängt am hinteren Ende hockt.

Eine herrliche zufriedene sättigende Ruhe. Die Luft weht sehr angenehm gefächert herüber. Ein paar Fliegen schwirren umher und kleine Mäuse rascheln im Stroh. Vielleicht finden sie Körner oder wurden sie aufgeschreckt. Die Ruhe täuscht. Ganz dicht an die Wand gedrängt, wartet das grüne Stalker-Strichmännchen, bis ich vorbei gehe.

Ich gehe weiter. Angenehmes Licht fällt schräg durch die länglichen Fenster gleich unterhalb des Daches. Draußen scheint die Mittagssonne und die Temperaturen sind noch einmal in die Höhe gestiegen. Hier drinnen hält sich die Kühle des frühen Morgens. Das rote Backsteingemäuer bietet Schutz vor den Temperaturschwankungen. Mit meiner Hand gleite ich beim Weitergehen an ihren Furchen entlang. Dabei verändert sich die Oberfläche und beginnt sich zu kräuseln, wie beim leichten streicheln einer Wasseroberfläche.
Huch. Was ist das? Ich erschrecke mich. Angewidert ziehe ich ruckartig meine Hand zurück. Meine Fingerspitzen stupsten in etwas klebrig fasriges, wie in eine Wabberraupe aus grünem Schleim. Sekundenschnell versinkt es in den Furchen.

In der Mitte der Höfe teilen sich die Wege wie ein großes geschwungenes IXS.
Einige der Studenten laufen auf die rote Tür zu und verschwinden wieder hinter ihr.
Da, schon wieder das grüne Wesen. Überholt mich. Tippt mir keck auf die Schulter, ein kurzes elektrisiertes Pieken durchfährt meinen Körper. Es dreht sich kurz zu mir um… .Und streckt mir seine fleischige, gespaltene, zitronengelbe und mit runzligen Zysten belegte Zunge entgegen wie eine Giraffe. Und reißt dabei seine Augen weit auf, sodass sie ihren Halt in den Augenhöhlen verlieren.
Bevor es ebenfalls hinter der roten Tür verschwindet. Geradezu von der Tür verschlungen wird.

Nur kurz wurde mir ein Spalt Einblick in den Raum dahinter geboten. Dort trete ich auch ein und der Spalt schließt sich hinter mir. Ich schaue mich um. Wie auf einem runden Flur von dem jeweils wieder drei Räume wegführen.
Die Türen stehen offen und überall sitzen dort welche an runden Tischen und lesen, betrachten Bilder, zeichnen oder ordnen buntes Papier. Einige Frauen, die ihre lockigen Haare mit zu Seilen gedrehten Tüchern zusammen zu einem Zopf gebunden haben, huschen an mir vorbei.

Ich sehe genauer hin. Dort an der Wand sitzt eine junge Frau in weiten, rotbraun gefärbten, Leinenhosen und in einem orangefarbenen T-Shirt auf einem höheren Hocker und zieht mit den Fingern lange Fäden aus einem faustdicken Schnürenbund, nach einer mir unerklärlichen Reihenfolge.

Da spricht sie mich auch schon an. Ich weiß nicht mehr, was sie sagte, aber ich schaue ihr eine ganze Weile zu, ehe ich mich aufgefordert fühle, ihr beim Tragen der ausgesuchten meterlangen Fäden zum Tisch, zu helfen. Der kleine Stuhl war noch frei und ich bleibe dort sitzen. Der Raum füllt sich mehr und mehr. Alle wissen Bescheid, wie verabredet, was als nächstes passieren wird. Nur ich nicht.

Ich bin etwas unschlüssig und auch sehr unsicher, ob ich noch weiter bleiben soll. Dann fängt die junge Frau von vorhin an, ihre Werkzeugtasche aufzurollen. In dem Innenfutter der Tasche stecken in jeder Größe und Art Nadeln. Zum Stricken, zum Häkeln, zum Knüpfen, zum Nähen, zum Stopfen.

Das war es, was mich hier her führte.
Ich brauche Nadeln. Ichgreife nach ihnen und schnappe mir eine Hand voll von ihnen. Ich verlasse mit einem Sprung den Raum. Laufe auf den Flur. Ich bin nicht allein. Wie schafft das grüne Ding es immer wieder genau da zu sein, wo ich bin. Ab durch die rote Tür…denke ich noch und suche den Ausgang. Ich irre umher und manchen Gang bin ich schon mehr als einmal lang gelaufen. Erschöpft bleibe ich stehen. Grünes Kichern. Hinter mir. Ich drehe mich abrupt um… und schaue in ein Schaufenster. Da ist der kleine Laden mit den vielen Dingen, die die Neuzeit scheinbar vergessen hat.

Die Tür öffnet sich fast von selbst. Ich trete unfreiwillig ein. Ein Druck in meinen Lenden schiebt mich Stück für Stück, nein, Schritt für Schritt in den Raum. Und? Ich bin verzaubert. Es riecht nach rauem Leder und feinem Öl für die dicken Zahnräder der Stempelmaschine, die mir ihr Stempelkissen hinhält, so als ob es mich auffordert: „Gib mir Fünf“. Ich solle meine flache Hand darauf klatschen. Eine Nähmaschine rattert leise vor sich hin. Das Trittbrett wiegt schnell hin und her. Der Stofffetzen am anderen Ende richtet sich auf und versucht, wie eine kleine Fledermaus, dem Faden zu entkommen – zick zack, zick zack. Holzröhrchen klappern leicht gegeneinander, die als Gegenstücke von der mit Leder bespannten Trommel herab hängen. Es kommt mir vor, als wenn sie sich streiten, wer als nächstes auf die Trommel schlagen darf. Wer bedient die Geräte? Unsichtbare Gestalten?

Mitten im Raum stehend, drehe ich mich zu diesem und dem nächsten, was das Auge noch zu entdecken hofft. Ich weiß nicht mehr, warum ich hier bin. Ich weiß nur, ich möchte gern lange hier bleiben. Nie mehr weg. Hier liegt der Kern allem Denken und Tun.

Jetzt bin ich auf einmal mutig. Ich gehe direkt auf die einzige wahrhaftige reelle Person zu. Wieder eine Frau, rundlich, etwas gebeugt und tiefe Lachfalten in den Augenwinkeln, vielleicht so alt wie ich und ich spreche sie an.
Ich frage sie, ob es für mich etwas zu tun gibt. Hier an diesem Ort. Sie sehr freundlich und noch etwas versunken in ihrer Sortierung von kleinen Seidentüchern, sagt dann: „Melde dich dort, hinaus und rechts entlang bis zum Ende des Ganges in dem kleinen Büro. Sie brauchen so jemanden wie dich für die Leseevents in der Bibliothek. Mein Herz pocht mir bis zum Hals vor Freude und in Erwartung. Bevor ich aus dem Raum stürme, bleibt mein Blick in dem tellergroßen Spiegel hängen und ich sehe mich grasgrün von oben bis unten in einem einteiligen Raumanzug stecken…….. .

. === Da wache ich auf. === …….. aus der Nacht zum 02.09.2015

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Ich erinnere mich … an Norbert

Der Nobert tauchte auf, auf der Abschlussfeier von mir. weiter...

Er war nicht einer von den Klassenkameraden und auch sonst nicht eingeladen. Aber der Abend war schon fortgeschritten. Und die Türen standen sperrangelweit offen. So kam es, dass Leute von der Straße nach oben schauten zu dem Festsaal des VEB Elektrokohle und Norbert wollte noch etwas erleben an diesem Freitag. In der Herzbergstraße ist sonst nicht viel los mit Party. Die Musikbox lief Dauerschleife, weil der DJ Feierabend hatte. Bei Manfred Manns Earth-Band schnappte sich Norbert das schick angezogene Mädel, das ich war. Wie ich so rum stand in meinem strahlend blauen Shiffonkleid, das mir von den kleinen gerafften Puffärmelchen bis runter zu den kleinen Stöckelsandalen reichte. Die glatten haselnussbraunen Haare fielen mir fast über den Popo.
Mir gefiel seine Spontanität und ich lies mich auf das rockige Gezappel ein. Zuerst zurückhaltend. In den Hackenschuhen konnte ich leicht umknicken. Aber dann machte das lockere hin und her Gehüpfe richtig Spaß. Obwohl ich mich wohler gefühlt hätte in den Spezialjeans und der schwarzen Lederjacke. Speziell deswegen, weil eine geschickte Schneiderin aus Jeansstreifen kaputter Levis-Jeans eine neue nähte. Die Nähte schlängelten sich um die Beine und den Po. Die schwarze kurzbündige Lederjacke war ein Geschenk meiner Tante aus Dortmund. Die Jacke lag mal in einem der Westpakete von ihr. Beim immer schnelleren Herumwirbeln beim Rock-and-Roll von Elvis Presley verfing sich der Stoff in dem schmalen Absatz und riss in den seidenen Stoff einen Dreiangel. Fast wäre ich gefallen. Da waren die ausgestreckten Arme von Norbert. So kamen wir uns näher.
Da fragte er: „Wie heißt du denn? Ich bin Norbert. Aber alle sagen nur Nobse.“ Die anderen riefen nach. „Petra, kommst du mit? Wir wollen in den –Krug-!“ Im „Lichtenberger Krug“ war seit 22 Uhr Disco angesagt. „Ich komm nach! Geht schon mal los!“
„Ah, Petra also! Wollen wir zum Alex-Treff? Oder zur Disco im Palast? Das ist ganz neu! Da geht’s jetzt erst richtig los“ fragte Nobert. Meine Blicke schwankten ein paar Mal hin und her. Schließlich waren mir der Wolle und die anderen nicht unegal. In dem Kleid hatte ich den ganzen Tag die volle Aufmerksamkeit der Jungs aus meiner Klasse. Als wenn jeder von ihnen mich wenigstens einmal in die Arme nehmen wollte. In die Haare fassen und mit mir lachen.
Norbert zögerte nicht lange und wartete die Antwort nicht ab. Schnappte sich die Jacke und das Täschchen und griff nach meiner Hand. „Los, komm. Die nächste Straßenbahn ist unsere!“
Also gut. Viel Geld hatte ich nicht bei. Aber für den Eintritt und das Fahrgeld würde es noch reichen. Nach dreißig Minuten Fahrt und genauso viel Zeit zu Fuß erreichten wir unser Ziel. Der „Palast der Republik“ – war ganz neu und gerade erst eröffnet worden von der Parteiriege um Erich Honecker.
Das Gebäude wurde zum Anziehungspunkt nicht nur für Touristen. Für alle freier Eintritt. Ganz unten gab es eine Disco mit einer drehenden Tanzbühne. Sie war überfüllt und keiner wurde mehr hinein gelassen. Nur gegenüber in der Bowlingbahn mit ihrer gastronomischen Einrichtung ergatterten wir zwei Plätze an einem kleinen Tisch an der Fensterfront. Was gab es zu essen? Was konnten wir uns leisten? Soljanka mit einer Scheibe Zitrone und einem Schuss Sahne. Ragout fin in neudeutsch ist Würzfleisch in der DDR. Mit Käse überbacken in kleinen Schälchen. Nur komplett mit Worcestersauce und einer halbierten gerösteten Toastbrotscheibe. Beim ersten Happs verbrannte man sich regelmäßig die Zunge.
Norbert wollte unbedingt was essen. Er schlug vor und für ihn war das schon beschlossene Sache. Hackepeter oder noch besser und delikat war Tatar. Dazu zwei Schwarzbrotscheiben. Auf dem Teller lag durchgedrehtes mageres Rindfleisch verteilt und in der Mitte schwankte ein rohes Eigelb. Rundherum um das frische Fleisch lag kleingeschnittene Zwiebel und Häufchen von Salz, Pfeffer und Rosenpaprika. Auch zwei Portionen Butter wurden gereicht. Nobert fragte nicht erst, ob ich auch so etwas wolle und lud mich ein, denn er hatte was zu feiern. Sein erstes eigenes Facharbeitergeld bekam er heute. Ich war skeptisch. Wegen dem rohen Fleisch. Schmeckt das denn? Ich machte es ihm nach. Erst das rohe Eigelb aufreißen und mit der Fleischmasse vermengen. Salzen, pfeffern und die Zwiebelstücken mit unter mischen. Er tat das so geschickt. Bestimmt war es nicht das erste Mal. Ja, stimmte er mir bei. „Bei uns in der Bauarbeitergaststätte Siegfriedstraße da gibt`s das auch. Da hinter wohne ich.“ Während er weiter seine Stullen präparierte, fragte er mich, wo ich denn wohne. „Ach da! Roedernplatz.“
„Und wie sieht´s aus mit nem Freund und Sex und so?“
„Was und so?“
„Na, bist du schon vergeben? Oder wartet einer hinter der Ecke, der mir eine auf´s Maul haut. Weil ich mir seine Ische geschnappt habe.“ Grinste übers ganze Gesicht und sogleich schob er sich die üppig belegte Tatarstulle ins besagte „Maul“.
„Ich gehör´ nur mir selber!“
„Ach so eine bist du!“ Kaute und obwohl er den Mund voll hatte, gab er nicht auf, weiter löchernde Fragen zu stellen:
„Und was machst du weiter? Ausbildung? Abitur oder studieren?“ Ob ich so eine Neunmalkluge sei. Ich blieb ganz ruhig. „Mal sehen, was klappt.“ Ich hatte doch mehr zu tun mit dem beschmieren meiner Brotscheiben. Zur Abwechslung sprach er mal von sich. Dass er nach der achten Klasse abgegangen sei. Er wollte was Handfestes lernen. Was Praktisches. Hatte die Büffelei satt. Er ist Karrosseriebaufacharbeiter. Einer, der Spaß daran hat, den ganzen Tag lang auf Blech herum zu schlagen.
Zum Tatar passte ein Helles. Es löste die Zunge und andere Hemmungen.
Ich erfuhr, dass er einen jüngeren Bruder hat und sie beide noch Zuhause bei Mutti wohnen. Ihr Vater hatte sie verlassen, als er vier war. Die Mutti ist zu ihrer Schwester verreist.
„Kommst du mit zu mir?“ Ich dachte, was kann schon passieren. Das Tatar war gegessen und nebenan erlosch das Licht der glitzernden Discokugel. Die Tanzbühne drehte sich längst nicht mehr.
Ich erinnere mich gern an unsere gemeinsamen Wochenenden mit Übernachtung in dem oft verlassenen Ehebett seiner Mutter. Die Sonne kitzelte mich wach und da stand Norbert mit dem vollbepackten Holztablett. Toaster, Toastbrot, Butter, Zucker und einen Schwabbelbeutel mit Milch. Wie das krümmelte und überall piekte.
Zu den Sommerferien verabredeten wir uns zum Trampen. Daumen raus und aufspringen auf die Mitfahrgelegenheiten, die sich boten. Wenn es auch nur ein offener Lader war. Alles voll mit toten nacktgerupften Hühnern. So fuhren wir und liefen wir und fuhren wir wieder ein Stück. Immer an der Ostseeküste entlang. Wenn wir müde wurden, ließen wir uns nieder und sangen Lieder, während einer mit Gitarre die Melodie schrummte. Die letzten Flammen des Lagerfeuers erloschen und dann krochen wir in die Zelte und schliefen auf Luftmatratzen und Stroh sorgte für ein Kopfkissen und dem unvergesslichen Duft von Freiheit und Jugend und einer Menge Unbeschwertheit.

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Ritual oder Gewohnheit

Der Wecker klingelt. weiter...

6:45 Uhr. Ich drücke den Taster und dann drehe ich mich nochmals um. Noch eine halbe Stunde. Dann aber wirklich. Mein Handy vibriert unter dem Kopfkissen. Nun los. Kaffeewasser aufsetzen und ab unter die Dusche. Was habe ich geträumt? Von dem Bus, in dem sie quer saßen, wie auf einer kleinen Tribüne? Schnell abtrocknen. Halte den Gedanken fest. Das Wasser hatte schon gekocht. eins zwei drei. Das brodelnde Zeug in den Kaffeebecher gegossen.
Wie ist das Wetter? Kalt? Wärmer? Heute früh schneit es. Ich suche die dicke Hose. T-Shirt unterm Hoodie. Endlich kann ich die gefütterten Stiefel hervor holen. Gekämmt und deodosiert, sitze ich am Couchtisch und schlürfe meinen dampfenden Kaffee. Der Traum von dem queren Bus. Da fange ich an zu schreiben. Zehn nach acht. Ich muss los. Mein Fahrrad ist eingeschneit. Ich nehme den Bus.

Sonntag. Ich wache auf. Ohne Wecker. Was? 6:45 Uhr. Ich gehe zur Toilette und dann lege ich mich nochmal hin. Unter der Decke ist es mollig warm. Ich wache wieder auf. Die Uhr zeigt 7:15 Uhr. Automatisch gehe ich in die Küche, setze Wasser auf und stelle mich unter die Dusche. Mein Traum? Er traf mich und nahm mich an die Hand und als sie vorbei kam, ging er mit ihr mit. Stand ich da, wie ein begossener Pudel.
Ich trockne mich ab. aschlüpfe in meine Sachen. Mit dem aufgebrühten Kaffee sitze ich am Couchtisch und denke. Und schreibe. Irgendwas ist heute anders. Es ist Sonntag.

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Vollmondmeditation

Das Einfamilienhaus weiter...

steht auf der rechten Seite der bepflasterten Seitenstraße. Fast am Ende der Sackgasse. Vorbei an duftende Gärten. Lauer Abendwind. Tiefer aus der Siedlung dringt in feinen Fäden Grillgeruch durch die Hecken. Der Himmel wurde noch vor dem Abendgruß geputzt, so dass schon die ersten Sterne funkeln. Von der Sonne bleibt der letzte orange Lichtschein. Bis auch der hinter der Siedlung erlischt und der Mond noch unscheinbar, zwischen den hohen Pappeln der Allee aufsteigt.
Da stehen die fünf vor der Gartentür, wie verabredet zur selben Zeit, um die Vollmondstunde bei Heidi –eigentlich Adelheid– zu verbringen. In lockerer Kleidung und leichtem Schuhwerk, so wurden sie erwartet.
Für die dicke Sportstudentin ist alles ganz neu – Marion. Endlich möchte sie wieder ihre frühere Figur wiedererlangen. Eigentlich führte ihr Weg hierher zu Adelheid, weil sie von ihr eine Lymphdrainage erwartete. Heidi nutzte ihrerseits jeden Kontakt, um für die zweitwöchentlichen Meditationsabende Teilnehmer zu finden. Bei ihrem ersten Termin scannte Adelheid ihr „Opfer“ Marion so mit ihren Blicken von oben nach unten und wieder hoch bis unter ihren kurzen Pony. Was Marion wiederum so irritierte. Schließlich vibrierte es auch in ihr. So dass sie den eigentlichen Anlass ihres Besuches augenblicklich völlig vergaß und nur noch mehr wollte von dieser ganz anderen Begutachtung. Endlich wurde sie so wahrgenommen, wie sie war. Sehr empfänglich außerdem für spirituelle Rituale. Karten zu legen, Erzengel herbeizurufen. Ins Blaue Licht zu schreiten und Energieschutzpyramiden um sich herum zu errichten. Aus den Händen zu lesen und aus dem Gang und wie die Füße stehen.
Heidi lud sie Marion also ein und sagte ihr, dass es da so eine Meditationsgruppe gäbe, da würden einige Rituale zur Vollmondzeit stattfinden. Soviel hatte Marion schon probiert. Aber der Jo-Jo-Effekt schwebt wie ein Damoklesschwert über ihr.
Die krumme Frau –das ist Eleonore- klingt das Tor auf und watschelt los. Der orange feurige Haarschopf kündigt Heidi an und wie sie ihr aus dem Haus entgegen kommt, flüstert sie ihr bei der Umarmung etwas ins Ohr. Eleonore nickt nur und winkt mit der Hand etwas Unsichtbares hinter sich über ihre Schultern. Sie denkt, was soll schon sein. Mit ihren 77 Jahren. Die Stufen in die Dachetage wird sie schaffen, wenn es auch alle aufhalten wird. Sollen sie sich doch derweil noch etwas auf der wilden Wiese die nötigen Kräuter sammeln.
Eleonores schwarzgekleidete krumme Gestalt verschwindet hinter dem Vorhang der Terrassentür. Frank, der schlanke fast ein bisschen zu hagere Mittfünfziger, hat eine wuchernde Warze schräg auf seiner Nase. Vormals war er Hotelmanager einer kleinen Hotelkette im Speckgürtel der Großstadt. Seit einem halben Jahr ist er arbeitslos und nun macht er sich an die Aufgabe, eine Grille zu suchen und zu fangen. Wenn der Vollmond dann am höchsten stände, solle die Grille auf die Warze pinkeln, damit sie dann bald abfiele.
Die anderen -Jenny, Marion und Frank- tauschen sich noch eine Weile aus, über das, was ihnen alles passiert ist nach der Reiki-Einweihung, während sie gemächlich das Haus durch die Veranda betreten, die Schuhe ausziehen und sich die Plüschsocken überstreifen. Die schmale Wendeltreppe am Ende des Korridors führt in den großzügig ausgebauten Dachstuhl, in dem sie von schmeichelndem Kerzenlicht und seltenen Düften und einer summenden Melodie im Hintergrund empfangen werden.
Dort angekommen und ganz eingenommen von dieser Stimmung unterhalten sie sich weiter über die Reiki-Erfahrungen, die sie seit dem letzten Treffen gemacht haben. Tische ließen sich nicht verrücken und auch Kartenstapel klappten nicht von alleine um. Aber offensichtlich hat es Heilprozesse in Gang gesetzt. Ganz dem einen Prinzip: In der Wirksamkeit liegt die Wahrheit. Knie- und andere Gelenkschmerzen, Hautabschürfungen, kleine Schnitt- und Brandwunden heilten schneller und problemlos. Frischgeschnittene Blumen hielten länger in der Vase, weil sie an den Stielenden vorher für einige Minuten mit Mana aus der rechten Hand belebt wurden.
Uwe glaubt nicht dran. Sein Wunsch, dass Petra ihn nicht verlassen würde, ging leider nicht in Erfüllung. Nur wegen ihr, seiner Ex, führte es ihn zu Heidi. Weil seine Frau früher mal hier her ging und sie von seltsamen Ereignissen erzählte und was sie in lodernden Flammen in einem Pyramidenkristall aufsteigen sah oder dort hineinschickte. Uwe hörte dem misstrauisch zu. Vor allem, wenn sie so von dem Frank schwärmte. Wenn der ihre Hand nahm im Energie-Begrüßungskreis. Dann spüre sie angeblich die Wärme seines Sonnenherzes und wie sie durch ihren Körper ströme. So, wie sie es beschrieb. Weckte das seine Neugier. Oder doch nur Eifersucht.
Jetzt kommt Petra schon lange nicht mehr her, seit sie ausgezogen ist. Umgezogen in dieses Nobelviertel und nahm den gemeinsamen Sohn gleich mit. Manchmal denkt er, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn er ihr doch mal einen romantischen Heiratsantrag gemacht hätte.
Trotzdem glaubt er immer noch nicht an den Zauber mit den Kristallen und an Chakren und gelegten Karten. Aber diese Frauen im Haus. Sie riechen so gut. Überall riecht es orientalisch. Räucherwerk. Sandelholz. Patcholi. Die leisen Klänge aus einer Musikanlage. In einer Nische plätschert es sanft aus einem Zimmerbrunnen -eine weiße Tara-Göttin sitzt auf der Lotusblüte. Gedämpftes Licht im ganzen Haus. Teelichter in ausgehöhlten Salzsteinen. Später werden sie jeder extra auf einem dunkelrotem Samtpuff sitzen oder jeder wie er es kann, im Schneidersitz. Sie sagen dazu Lotussitz. Bei der Meditation liegen sie auf wärmenden Schaffellen. Außer die alte krumme Frau. Die bleibt im Sessel sitzen.
Schon ohne dass es begonnen hat, fühlt nicht nur Uwe sich in einer Welt, wo die Realität allmählich verschwimmt.
Heidi ist aufgeregt, weil Frank, statt eine Grille zu fangen, ein Hühnerknochenhäufchen unter der Brombeeren-Hecke im Garten gefunden hat. Als ein böswilliges Ritual ihres ersten Ehemannes, mit dem sie sich seit ihrer Scheidung um das Haus und das Grundstück streitet. So wird es gedeutet. Da ist Eleonore die Richtige. Tröstet Adelheid und hilft ihr dabei, dunkle Gedanken und Flüche zu vertreiben, die sonst eher auf sie selbst zurücktreffen würden. Als sie sich gerade aufrichten, um sich zu der wartenden Gruppe oben über ihnen dazu zu gesellen, entdecken sie geschockt die schwarze Energie an der Zimmerdecke in Form einer fetten kugeligen Spinne, so groß wie eine Walnuss.
Robert, Adelheids neuer Partner, kümmert sich darum. Mit einer durchsichtigen Plastikkelle und einem Pfannenwender steigt er auf die Trittleiter und klaubt sich das ungewöhnliche Krabbeltier von der Wandtapete und mit einem Schmunzeln in den Augenwinkeln. Wie typisch das sei, denkt er – Frauen und die Angst vor Spinnen.
Jenny kam nochmals nach unten, um die teilweise heruntergebrannten Kerzen auszutauschen und will ihrer Mutter -Heidi ist ihre Mutter- zeigen, welche neuen Duftkerzen im Angebot seien. Sie betreibt neben ihrem Tanzstudium einen Kerzenverkauf, indem sie PartyLight-Partys organisiert. Für Heidi ist das nicht gerade das Gesprächsthema Nummer eins zwischen ihr und ihrer Tochter. Gerne hätte sie von einer anderen Sache Nachrichten erfreut. Nämlich, dass sie endlich Oma werden würde.
Aber Jenny mit ihren 24 Jahren will nur immer tanzen und keine Kinder.
Nun wird es langsam Zeit, mit der Zeremonie zur Vollmondmeditation zu beginnen. Hedi schließt hinter sich die Tür und alle Anwesenden setzen sich zum Kreis in die Mitte des Raumes. Dann zieht sie auch die Vorhänge zu zum Schutz vor ungewollten Blicken von draußen. Die Karten liegen bereit und auch die frischen Kerzen leuchten an ihren Plätzen. Eine Buddhafigur in seiner demütigen Haltung gibt dem allen die nötige Schwingung. Endlich setzt auch Heidi sich zu den Wartenden an ihren Platz und reicht ihren Sitznachbarn links und rechts von ihr die Hände. Zugleich tun sie es rundum. Die linke Hand solle immer oben auf der rechten Hand liegen. Bis der Energiekreis sich schließt –von Herz zu Herz das goldene Band alle verbindet.
Das Ritual nimmt seinen Lauf.
Begrüßung. Danksagung. Bittstellung. Jeder kommt an die Reihe. Spricht Wünsche aus und in einer Form, als wenn das Gute gerade eingetroffen ist. Dieser und jener nahe Verwandte oder Freund hat sein Glück gefunden und ist vital. Andere sind dauerhaft geheilt und genießen eine harmonische Partnerschaft. Dann lösen sie den Kreis und reiben sich die Hände und legen sie sich aufs Gesicht und streichen sich die letzten Gedanken auf den Hinterkopf und den Nacken hinab, soweit es ihnen gelingt. Heidi legt eine andere CD ein. Der nächste Teil des Abends beginnt. Alle verteilen sich im ganzen Raum und machen es sich bequem auf den Schaffellen. Ein weiteres Paar Wollsocken soll die Füße warm halten. Marion legt sich eine Kissenrolle in die Kniekehlen. Als alle entspannt daliegen, darauf warten, dass der Einstimmungsklang einer Kupferschale ertönt, fällt die Reihe kleiner Bücher mit Karacho um. Sogar eines der Reikisachbücher kippt aus dem und bleibt aufgeschlagen liegen. Genau auf der Seite mit den Gebeten und Weisheiten zu Vollmond.
Frank und Jenny drehen die Köpfe zueinander und grinsen sich an. Uwe sieht das und rollt bloß mit den Augen. Ja, ja der Frank, denkt Uwe. So sieht er seine Petra neben ihm liegen und fühlt sich bestätigt.
Heidi beginnt mit der Einstimmung: „Schließe deine Augen und auf dem weißen Blatt vor dir schreibst du drei mal die Zahl drei … und so wie du schreibst, wiederholst du innerlich 3 – 3 – 3 und atmest ganz tief durch… „ genauso mit 2 und mit 1 „ … und entspannst dich tiefer als zuvor. Und nun stellst du dir die Zahl Null vor… die Null wie ein Oval, etwas größer als du selbst …. du entdeckst, dass darin ein Spiegel ist. Du betrachtest dich liebevoll darin und sagst etwas nettes zu dir selbst, was du heute gern gehört hättest. Atme dabei tief und entspannt gleichmäßig ein und aus. Schiebe den Spiegel zur Seite und siehst in dem Oval eine Öffnung. Trete durch das Oval und du befindest dich auf einer wunderschönen duftenden Wiese. Bunte Blumen und kleine Schmetterlinge ringsum….Sonne, Wind und Freiheit…das ist einfach unendlich schön. Direkt aus der Sonne schwebt ein goldener Engel auf dich und er möchte dich ein Stück führen….“
Geführte Meditation auf den Regenbogen in einer farbigen Seifenblase.
Als Heidi wieder rückwärts zählt, ist mit der letzten laut heraus gesagten drei auch die Musik zu ende.
Zurückgeführt öffnen sie langsam wieder ihre Augen. Strecken und räkeln sich genüsslich. Nacheinander kann jetzt jeder von seinen „Traumerlebnissen“ erzählen. Für die absurdesten Schilderungen und unwirklichsten Begegnungen in fremden Welten und mit tiefen Empfindungen. Auf all das hat Heidi eine Erklärung parat. Eine Karte oder ein Muster der her geworfenen Kristallsteine. Geschickt lenkt sie für den Fragenden die Deutung in eine Richtung, die in etwas aus seiner Realität weist.
Wer dann noch mehr wissen will, vor allem bei dem Problem mit der Warze oder wie das nun mit den dicken Beinen und den Fressattacken zusammenhängt, darf sich noch eine Karte ziehen. Nur Eleonore hat sich schon längst wieder die Treppe hinunter gezwängt. Zu solchen besonderen Abenden, die mit dem Mondzyklus einher gehen, bietet Heidi ein besonderes Extra an. Dazu öffnet sie die geheimnisvoll glitzernde Truhe und reicht jedem in der Runde ein marmornes Glücksengelchen oder kleine Delfine aus Mondstein. Duftstäbchen aus Japan oder daumengroße kupferfarbene Buddha-Figürchen. Wenn jeder mit seiner Wahl einvernehmlich zufrieden grinst, werden dazu Kärtchen mit alten chinesischen Weisheiten zugeordnet.
Es liegt trotzdem an jedem selbst, wie es für ihn im speziellen wirken möge.
Langsam schleicht sich Müdigkeit ein. Als Heidi zum Fenster geht und auf dem Weg dahin die Kerzen ringsum ausdrückt, helfen alle mit, die Puffs und Schaffelle gleichmäßig in den Truhen und Ecken aufzustapeln.
Auch die umgestürzte Bücherreihe stellen sie wieder auf. Marion bittet Heidi gleich noch, ob sie das Buch mit den Ritualen zur Selbstbehandlung mir Bachblüten mitnehmen darf bis zum nächsten Mal. Uwe schiebt sich und seinen Kugelbauch an der Büchse für den Obolus klammheimlich vorbei. Nur ein Fünf-Cent-Stück lässt er durch den Schlitz fallen. Dafür lässt er auch die kleinen Extra-Geschenke auf der Kommode liegen. Schnell heftet er seine Schritte an Marion. Sie hat bestimmt noch ein paar Abnehmtipps für ihn übrig.
Die blickdichten funkelnden Vorhänge, die Heidi wieder links und rechts zur Seite aufschiebt, geben den Ausguck zum Himmel frei. Gut lüften und die angestaute Energie frei lassen. Der Mond steht da. Unübersehbar. Oben. Über allem und der Weg durch die Siedlung wird nicht ganz so unheimlich sein wie sonst.
Jenny hat es nicht weit. Trotzdem. Irgendwie sehen jeder Strauch und die schwankenden herunter hängenden Äste wie lebende Monster und Nachtgespenster aus. Heute fühlt sie sich mit Frank etwas sicherer, der sie bis zur Kreuzung am Ende der hell beleuchteten Hauptstraße noch begleitet. Er verabschiedet sich von ihr mit einem schüchternen Händedruck und die Gedanken fliegen und mit jedem Schritt schwebt jeder von ihnen zu sich nach Hause.

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Schreiben

Ich stelle mir die Welt vor weiter...

ohne Bücher. Ohne Geschriebenes. Ohne etwas zum Lesen. Ohne diese wunderbaren Stifte. Ohne Papier. Unbunt und leer.
Ich werde wach. Was habe ich gerade noch geträumt? Ich kann kaum was erkennen. Noch nicht das Licht anmachen, sonst ist der Traum fort. Bevor sich die Pforte schließt, schnell noch die Stimmung einfangen. Was sagte sie? Wo rannte er hin? Wer gab mir den Schubs? Bevor der Wecker klingelte.
Schnell schnell schnell fliegt der Bleistift über’s Papier. Wie hieroglyphenartig es aussieht. Großspurig Platz gelassen zwischen den Zeilen. Geschafft. Die Traumpforte entschwindet der Realität. Ich klappe mein Traumtagebuch zu.
Jetzt mache ich mir Licht und gehe ins Bad. Haare gekämmt und zusammengeklemmt. Duschen. Die Nachtschwärmerei fließt abwärts in den kleinen Gulli. Es erwachen die Gedanken für den Tag.
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ABC

A-B-C – ich kann schon lesen weiter...und schreiben. Anfänglich Buchstaben. Sie zusammenziehen zu Worten. Zu Sätzen. Meine Fibel ist eher zu einem Gedenk Geschenk geworden, als dass es ein Schul- und Lese-Lernbuch war. Mein erstes Buch. Mein erstes Wort: M A M A. Mein zweites Wort: O M A.
Ich lernte fleißig. Meine Schrift war mittelmäßig. Einfacher gesagt – krakelig. Krakelschrift. Krähenschrift. Allerdings war es nicht einfach, schön zu schreiben, mit widerspenstigen Füllhaltern.
Ausgerechnet mit so einer Unschönschrift, lernte ich in der Ausbildung zur Technischen Zeichnerin Schablonenschrift. Aber ohne Schablone. Nach DIN-Vorschriften. Das heißt Freihand Beschriftung von technischen Zeichnungen auf Transparentpapier mit schwarzer Ausziehtusche.
Vom Schulschreiben über Beschriftung technischer Zeichnungen.
Nichts besonderes, so dachte ich lange nicht darüber nach. Viel später lernte ich noch weiter. Als Technische Redakteurin begann ich, neu zu schauen, was Schrift bewirken kann. Layout Gestaltung. Überschriften. Fließtext. Initialen. Einzig und allein die handschriftlichen Texte sind wahre Seelenflusswerke. Es fließt aus der Seele, aus dem Herzen, aus dem Verstand. Ein wahres Handwerk. Handgeschriebene Briefe. Liebesbriefe. Spickzettel. Alles verkörperte Gedanken, Gefühle und alle Sinne. Manchmal bleibt nur noch die Unterschrift übrig, von der Person, von dem Menschen, die ansonsten nur noch alles eintippen ins Digitale.
Noch ein Gedanke: Schrift ist oft schon zum Opfer geworden. Siehe die heute zu Unrecht verpönte Frakturschrift.

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Post aus Kanada.

Von den Ausgewanderten. weiter...

Solche Briefe sind sechs Wochen unterwegs. Weihnachtsgrüße auf Glitzerkarten mit Pop up Schneeflocken und Jingle Bells Musik. Die Worte sind fast gleich. Jedes Jahr wünscht mir meine Schwester -dear sister- Gesundheit und Glück und ein christmas-Elch wiehert mich an mit großen Kugelaugen und einem geschmückten Geweih. Was gibt es auch zu schreiben. Wenn ich dahin ausgewandert wäre, dann wüss-te ich viel zu erzählen. Letztes Jahr hatte ich sogar vor, dorthin zu fliegen. Das fand ich sehr aufregend. Schon die Organisiererei der Flüge, der Zwischenstopps, der Hotels. Ich wollte so viel wie möglich in zehn Tagen erleben. Nach Montreal. Drei Tage sightseen. Französisches Flair in der Alt-Stadt. Von dort mit dem Panoramazug nach Halifax. Immer an der Nordküste entlang und durch dichte Wälder. Ein, zwei Nächte verweilen in Halifax und von dort dann weiter nach Saint John. New Brunswick Ostküste. Ebbe und Flut. Soweit kam es nicht. Wir haben uns verstritten. Ich war nicht mutig genug, es alleine durchzuziehen.
Meine Schwester und ihr Mann kauften sich damals vor mehr als zehn Jahren dort in einer Familienhaussied-lung ein riesiges Grundstück mit einem fast verfallenen Haus. Steinige Wiese. Blumeninseln. Meterhohe Buchen. Da brauchen sie große Autos für weite Straßen zur Arbeit. Sie ist eigentlich genauso, wie sie es hier war, beschäftigt als Schriftsetzerin in einem Zeitungsverlag. Er ist ein Plummer. Ein Rohrleger und Strippenzieher. Auch genau-so wie hier.

Zu dieser jetzt Zeit arbeitet sie im Homeoffice.

Mir wäre das zu einsam. Ich wäre jeden Tag oder jedes Wochenende unterwegs. Umgebung und Leute erkunden. Außerdem würde mir meine Familie fehlen. Und meine Heimat. Mein Zuhause.


Ich bin im Museum, weiter...

bin in der angekündigten Monet-Ausstellung. Die Säle sind voll. Kaum gibt es freien Blick auf eines der Bilder. Seitlich links neben dem Türrahmen vor dem nächsten Raum entdecke ich einen knopfgroßen grün blinkenden Taster. Ich wünschte mir in diesem Augenblick, es würde tatsächlich geschehen … Ich drücke diesen Blinker und gleichzeitig kneife ich meine Augen fest zu. Tief eingeatmet. Schultern bis zu den Ohren hoch. Dann will die Luft aus mir raus. Langsam. Langsam öffne ich auch meine Augen. Zwick mich einer! Die vielen Menschen, die Besucher, die Wächter … alle stehen da. Erstarrt in ihrer letzten Bewegung. Ich glaube es nicht. Aber Schritt um Schritt schlängle ich mich durch die Menge. Bleibe stehen vor diesem Sommergartenbild mit dem hölzernen Torbogen, der dicht mit Rosenzweigen umrankt ist. Plötzlich riecht es sogar nach ihnen, den Blumen. Es plätschert aus dem Brunnen, der als Vogeltränke dient. Ein Sonnenstrahl glitzert vergnügt in einer verlorengegangenen Brille, die jetzt im Gras liegt, gleich neben weißlackierten Parkbank.

So passiert es bei jedem nächsten Bild. Ich gehe einmal herum und trete durch den Türrahmen, der in den nächsten Korridor führt. Ein kurzes Klick und der Traum ist auch schon wieder vorbei. War da nicht gerade ein Schmetterling von meiner Stirn weggeflogen? Hinter mir setzt das Gemurmel und Stimmengewirr wieder ein, so als wenn nichts war.

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Zurück in die Gegenwart

Amelie von Wulffen, Stadtcollagen VIII, Staedel Museum, FfM

Das Bild bietet weiter...
einen Blick in einen leeren Raum mit einer Theke, die als Rezeption dienen könnte und zwei Barhocker davor,
Verödeter Stadtraum. Betonglatte Wände, braun eingefärbt, mit oranggelben riesengroßen Lichttellern an der Decke. Der Fußboden ist schwarz.
Nur an einer Stelle wirkt ein runder zur Mitte immer heller werdender und weißleuchtender Kreis so, als ob er eine Tanzfläche wäre.
Den Raum teilt bis zur Mitte in den Raum ragend, eine ebenfalls orangegelbe meterdicke Wand, die vorn halbrund endet, um sich nicht an Wandecken zu stoßen, um in die hintere Hälfte des Raumes zu gelangen.
So öde sind wohl in dieser Zeit viele Tanzsäle und Partyräume. Wenn die Wände erzählen könnten.
Kein Abend wurde ausgelassen, sich darin zu beschallen, voll zu kippen und die Welt da draußen zu vergessen, die einem nichts zu bieten scheint.
Nun ist es es nur ein Raum. Orange. Weiß auf Schwarz.
Vielleicht erinnern sich die Menschen nun daran, dass es da draußen doch noch eine reale Welt gibt.
Die leisen Töne jetzt die lautesten sind. Nachtruhe bis in den Tag hinein. Jemand hat die Welt angehalten. Jemand hat mich erhört.
Wie schmeckt ein Glas frisches Wasser? Wie riecht der Frühling. „GutenTag, Nachbar! Wie geht es ihnen?“
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Neu ausprobieren:

Während der kontaktlosen Zeit.
Ich fahre jeden Tag zweimal dreißig Minuten mit dem Fahrrad zum Büro. Meide die öffentlichenVerkehrsmittel. Bewegung muss sein. Gegen Frust. Gegen Depression. Straßen sind leer. Luft ist erträglicher. Fahrradwege sind leerer als sonst.
Im Büro sitze ich am Empfang.
Drei von sechs Stunden gibt es fast nichts zu tun. Da lerne ich Stenografie. Wozu ich nie sonst die Muse gehabt hätte.
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Gedicht

Sein Blick spricht Bände.
So unsagbar besorgt.
Ihm ist nicht wohl zumute.

Der Tumor schläft.
Der sich da zeigt.
Ist wie ein kleiner Tennisball so groß
In der linken Brust.

Nur manchmal schaut sie noch hoch
Sich schüttelt und es nicht wahrhaben will, es von sich abschütteln will.
Geht durch die Tür und den Gang entlang.
Und hört aus der Ferne, ganz nah am Ohr: “Oma, das schaffen wir schon!”

33 Gedanken zu “Schreibwerkstatt_Petra”

  • Danke, liebe Petra, deine Gedanken erinnern mich an mein Befinden zu dieser Zeit. Das tut gut, dass du es auch so empfindest. Ich kann es mir vorstellen – das Bild, ohne es gesehen zu haben, deine Fahrt mit dem Fahrrad und deinen Alltag. Stenografie zu lernen, herrlich, eine Schnellschrift in langsamer Zeit. Ist schon toll, was für Ideen man entwickelt. das klingt so hoffnungsvoll….vertrauend auf die Fähigkeiten der Menschen….

  • Diese Zeit beschränkt die Kontakte. Sie weist noch einmal auf die Endlichkeit des Lebens hin. Konzentration auf das Wesentliche. Viel Hilfsbereitschaft und Interesse habe ich erfahren. Weil ich nicht schneidern kann, habe ich mir in Kaufland Biesdorf einen BH gekauft und umgearbeitet. Als das Ding eine Apothekerin gesehen hat, bekam ich gleich eine professionelle Maske. In der Druckerei wurde das Hilfsmittel so kommentiert: „Fuchs sein heißt nicht nur Schwanz tragen.“ Bei meinen Gartenfreunden gab es großes Gelächter. Nachmittags gehe ich oft in den Garten. Vormittags schreibe ich an der Dokumentation über das Leben meiner Vorfahren und mein Leben. Da alle anderen Veranstaltungen ausfallen, kann ich mich auf diese Arbeit konzentrieren.

  • Hallo, liebe Petra, jedes Mal habe ich an dich geschrieben, aber einen Fehler beim Abschicken gemacht….Deine Texte kommen so wunderbar leicht daher und erreichen mich auf eine faszinierende Weise. Danke. Wenn ich in ein Museum gehe, werde ich immer an deine Art des Lebendigmachens der Bilder denken. Eine tolle Idee….Leider kann man zur Zeit nicht ins Barberini. Eine nächste Gelegenheit wird sich finden.
    Bis bald liebe Grüße Christine

  • ach. Kanada, davon wollte ich auch noch schreiben. Es ist so, wie du es beschreibst. Traumhaft. Ich würde nicht auswandern wollen, nur mal besuchen… diese Natur. Das Leben ist dort nach einiger zeit so wie immer – Elch und JingkeBells. Dein text gefällt mir sehr. Zu Besuch musst du unbedingt hin! Ich glaube, man hört es raus, dass du es doch gern möchtest. Oder täusche ich nich?

  • Liebe Petra, nun schreibe ich das zweite Mal. Ach, Kanada. Es ist so, wei du es beschreibst. Traumhaft. Ich möchte auch nur den Besuch. Wenn man da sit. lebt es sich wie immer – Elch auf Papier und JingleBells….Hört man raus, dass du doch gern fahren würdest? oder täusche ich mich. Mir gefällt dein text sehr gut.Er ist so liebevoll.

  • ich habe zwei Mal geschrieben, nichts kommt an….Mir gefällt dein text sehr gut. Kanada ist si, wie du es beschreibst. Traumhaft. Besuch ist gut, aber dort leben…mit der Zeit ist alles wie Elch und JingleBells. Bestimmt. Hört man raus, dass du doch gern hinfahren möchtest. Wäre doch schön. oder Täusche ich mich?

  • Was du schreibst Petra klingt unheimlich lebendig. Fast wie erfundene Geschichte, dabei ist sie wahr.
    Auch wenn ihr euch gestritten habt, ich hoffe, es ist alles wieder gut und in der Ferne verschwimmen
    die Gründe. Was bleibt, ist die Erfahrung, das Erleben – eine andere Welt kennen gelernt zu haben.
    Kannst du dir ein Leben in Kanada vorstellen, wenn man dich heute fragt?

    • Danke für deine Kommentar. Zu deiner Frage, ob ich mir das vorstellen könnte. Ich kann mir das schon vorstellen, wenn es mich hier, wo ich gerade lebe, so sehr stresst. Dann schon. auch wenn es keinen Vertrauten Menschen mehr geben würde. Oder diese Menschen würden alle mitkommen. Dann durchaus.

  • Von Christine:
    ach, Kanada, es ist so wie du es träumend beschreibst, wunderbar. Ich würde auch nur zu Besuch dahin, weil mit der Zeit wird es auch Alltag…Elch auf Paier und JingleBells…höre ich raus, dass du doch gern hinfahren würdest oder täusche ich mich?Wäre doch schön. Dein text ist einfach gut und liebevoll.

  • Dein Text ist so nah am Leben, er zeigt dass da schon ein Wille ist, aber dann ganz zuletzt fehlt oft der Mut, oder die Zeit, oder es gibt tausend andere Gründe …

  • Also ich lese da auch noch ganz viel Reiselust und Sehnsucht raus. Und für die nichtssagenden Weihnachtskarten muss man gar nicht nach Kanada auswandern. (Ich kriege sowas seit Jahren von meiner Cousine…).
    Aber vielleicht passt es doch noch einmal, die Route steht ja schon 🙂

  • von Christine:
    Liebe Petra, du hast so schöne Worte erfunden – Seelenflußwerke. Toll. Spickzettel, herrlich. Liebesbriefe schreibe ich auch höchstens mal zu Geburtstag.Werde mal nach Frakturschrift googeln. Es klappt mit den Kommentaren. lieben Dank

  • Liebe Petra,
    wahre Seelenflusswerke.., das hat mir sehr gefallen,
    Schreiben aus der Seele, aus dem Moment heraus, das kann viel bewirken….verzaubern und
    überzeugen…aufklären.
    Ich liebe es mit der Hand zu schreiben, die Gedanken im Kopf werden geordnet und gut abgelegt.
    Auch manches, was ich vergessen will, kann somit gelöscht werden, auch wenn es irgendwo
    geschrieben steht. Im Kopf ist gelöscht, das Gedankengut.

  • Liebe Petra, ein schönes Beispiel, wohin einen das Schreiben führen kann – über die Form zum Inhalt. Ich habe große Hochachtung vor dieser Normschrift, weil sie einen so sehr zwingt, den handschriftlichen Selbstausdruck zurückzuhalten, der sich ja sonst so gern und so schön ubewusst einen Weg sucht in die Form der Buchstaben… Hast du’s mal mit Kalligrafie versucht?

    • Aber sicher. Ich habe sogar Metall Feder Halter und Tinte und verschiedene Schriften ausprobiert. Handgeschriebenes. Und auch so einen dicken Pinsel.

  • von Christine:
    Ach, Petra, ist das schön. Es ist aus der Seele geflossen, wunderbar. Schade, dass mir mein Zensor meine Träume nicht zeigt. Ich werde es üben…..so ein toller Text. Der wirkt nach…mehr kann eine Text nicht leisten. Toll

  • Oh, Petra, ein Text, der neugierig macht. Ich möchte so gern wissen, was du geträumt und dann aufgeschrieben hast. Herrlich, wie du die Situation am Morgen beschreibst, einfach eilig….sehr gut

  • Vollmondmeditation
    Du hast mich zum Schmunzeln animiert. Ja – worin man so alles lesen kann… sogar in Kristallkugeln!
    Die Figuren sind gut charakterisiert, manchmal etwas wirr im Zusammenhang, oder ich habe einfach unter Zeitdruck gelesen.

    • Ich bin froh, dass es so bei dir angekommen ist. Auf jeden Fall nehme ich es damit nicht so ernst , wie einige es tun. Schreiben und lesen kann auch eine Art meditieren sein.

  • Rituale
    Liebe Petra dass hast du sehr schön und vor allem nachvollziehbar beschrieben. Du und deine Träume, das ist schon etwas besonderes;-)

  • so schön anschaulich. Und ausgerechnet am Sonntag als Pudel… Ich finde die Geschichte sehr schön. Zum Schmunzeln, wie man strukturiert ist…

  • zu Erinnerung an Norbert
    Liebe Petra,
    Ich fühle mich zurückversetzt in fast vergessene Zeiten.
    Wir haben auf dieser Bowlingbahn mal „Würzfleisch gegessen. Mmmh, da hätte ich Appetit drauf, irgendwann und irgendwo…
    Du schaffst es immer wieder durch detaillgetreue Nuancen die Vergangenheit lebendig werden zu lassen. Die Kleidung dieser Zeit ist famos beschrieben…

  • Liebe Petra . Es war schön deinen Text zu lesen. So viele Erinnerungen, auch kulinarische. Wenn man jung ist und nur 60 DM Lehrlingsgeld hat. Du hast mich in eine unbeschwerte Zeit versetzt. Danke.

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